Der Blog für Sportpsychologie und Life Coaching

Zwischen Spielfeld und Konferenztisch – Warum Sportpsychologie mehr ist als Wissenschaft

von | 15.04.25 | Sportpsychologie

Dieser Text will keine Kritik üben, sondern einladen – zu mehr Offenheit für das große Ganze. Auch im Sinne Sigmund Freuds, der früh auf unbewusste Vorgänge hinwies, die sich den klassischen Kausalitäten entziehen. Mit seiner Psychoanalyse eröffnete Freud eine neue Dimension menschlicher Erfahrung: Er zeigte, dass unser Verhalten, unsere Gedanken und selbst unsere Überzeugungen nicht immer aus bewussten Entscheidungen hervorgehen, sondern oft aus tieferliegenden seelischen Dynamiken. Diese sind nicht immer linear oder logisch – sie entspringen inneren Konflikten, verdrängten Emotionen und unbewussten Wünschen. In einer Zeit, in der wir alles erklären, messen und kontrollieren wollen, wirkt Freuds Erkenntnis wie ein notwendiger Gegenpol. Sie erinnert uns daran, auch das Nicht-Offensichtliche zu achten – das, was wirkt, obwohl wir es nicht sofort benennen können. Offenheit für das „große Ganze“ bedeutet daher auch, Raum zu lassen für das Unausgesprochene, das Unbewusste – sowohl in uns selbst als auch in anderen. Es heißt, anzuerkennen, dass menschliche Beweggründe oft vielschichtiger sind, als es auf den ersten Blick scheint. Wer diesen Blick wagt, begegnet dem Menschsein mit mehr Verständnis, Tiefe und Demut. So verstehe ich Freuds Vermächtnis nicht nur als klinisch-psychologische Theorie, sondern als Einladung, den Menschen in seiner Komplexität ernst zu nehmen – jenseits vorschneller Urteile und oberflächlicher Zuschreibungen.

Zum Thema: Ein Plädoyer für mehr Offenheit und eine integrative Haltung

Seit vielen Jahren beobachte ich, wie Mentaltrainer*innen, Life-Coach:innen, Athlet:innen, Kolleg:innen, die nicht aus dem klassischen akademischen Feld kommen oder ein anderes Label tragen – sei es Coaching, Beratung, Live-Coaching oder Praxisnähe – immer wieder diskreditiert werden. Sei es in Gesprächen, durch subtile Kommentare oder ganz direkt in sozialen Medien. Ihnen wird ihre Kompetenz abgesprochen, ihre Arbeit infrage gestellt, ihre Beiträge ignoriert oder abgewertet. Dabei leisten viele von ihnen – nachweislich – Großartiges. Sie begleiten Menschen mit Empathie, Erfahrung und Wirksamkeit – und häufig dort, wo andere längst den Kontakt verloren haben. Dieser Text ist auch ein Zeichen der Solidarität mit Mentaltrainer*innen, Life-Coach:innen, Athlet:innen, Kolleg:innen. Ein Versuch, Räume zu öffnen, statt Grenzen zu ziehen. Ein Aufruf, wieder mehr auf das Gemeinsame zu blicken als auf das Trennende. Denn: Es geht um den Menschen. Und darum, wie wir ihn bestmöglich begleiten können.

Ein persönlicher Impuls

Es war nur eine Nachricht. Ein paar Zeilen. Aber sie stand sinnbildlich für etwas, das mir in den letzten Jahren immer wieder begegnet ist. Da war kein „Glückwunsch zum Artikel“, kein offener Diskurs, kein echtes Interesse. Stattdessen die direkte Frage: „Ist das überhaupt wissenschaftlich?“ Die Antwort darauf ist eigentlich einfach – und gleichzeitig komplex. Denn ja: Was wir tun, basiert auf fundiertem Wissen. Aber was wir erleben, begleiten und bewirken, geht oft weit über das hinaus, was sich in Studien operationalisieren lässt. Und genau das scheint manche zu irritieren: Dass Wirkung und Wissenschaft sich nicht immer decken müssen – aber trotzdem Hand in Hand gehen können. Seit über einem Jahrzehnt arbeite ich im Feld der Sportpsychologie – mit Fußballern, Leichtathleten*innen, Teams aus unterschiedlichsten Disziplinen. Ich begleite Menschen in Momenten, in denen es zählt. Und ich habe erlebt, wie viele Parallelen es zwischen dem Leistungssport und der Wirtschaft gibt. In unserem jüngsten Artikel – gemeinsam verfasst mit einer Kollegin aus dem Bereich Live-Coaching – haben wir genau diese Verbindungen aufgezeigt. Es ging um Selbstwirksamkeit, um Superkompensation, um Kompetenzerwartung und Leistungsdruck und vieles mehr. Kurz: Um alles, was im Sport wie im Business über Erfolg und Scheitern entscheidet. Und doch ist es oft nicht der Inhalt, der hinterfragt wird – sondern die Form. Der Abschluss. Die Zugehörigkeit. Der wissenschaftliche Stempel. Warum eigentlich?

Leistung unter Druck – Wie sich Sport und Business näher sind, als viele denken

Im Leistungssport zählt der Moment. Der Elfmeter in der 90. Minute. Die letzte Hürde. Der alles entscheidende Angriff. In solchen Augenblicken zeigt sich, wie stark mentale Prozesse über das Ergebnis mitentscheiden – nicht nur physische Vorbereitung. Im Business ist es nicht anders. Auch dort gibt es Drucksituationen, in denen man liefern muss. Entscheidungen, die nicht aufgeschoben werden können. Verantwortung, die plötzlich auf den Schultern lastet. Ob es ein wichtiges Kundengespräch ist, eine Vorstandspräsentation oder ein Team, das in der Krise Orientierung sucht – auch hier entscheidet die mentale Stärke. Die Parallelen gehen noch weiter:

  • Zielsetzung: Im Sport arbeiten wir mit klaren Zielstrukturen – genau wie im Business, etwa im OKR-Framework oder in Zielvereinbarungsgesprächen.
  • Fokus & Konzentration: Die Fähigkeit, im entscheidenden Moment präsent zu sein, ist sowohl bei einem Freiwurf als auch in einer Krisenverhandlung zentral.
  • Umgang mit Rückschlägen: Athleten*innen lernen, mit Niederlagen umzugehen – Führungskräfte müssen nach Misserfolgen neu ausrichten.
  • Routinen & Rituale: Im Sport sind sie Teil der Vorbereitung. Auch im Business stärken sie Struktur, Effizienz und Sicherheit.
  • Visualisierungstechniken: Mentales Training zur Vorbereitung auf Wettkämpfe findet sein Pendant in Präsentationsvorbereitungen und Entscheidungsprozessen.
  • Motivationstypen: Intrinsisch vs. extrinsisch – auch im Business entscheidend für langfristige Leistungsbereitschaft.
  • Körpersprache & Wirkung: Die nonverbale Kommunikation wird im Sport trainiert – in Verhandlungen oder Führungssituationen ist sie oft entscheidend.
  • Regeneration & Psychohygiene: Während im Sport auf Pausen geachtet wird, fehlt im Business oft das Bewusstsein für mentale Erholung – mit Folgen u.v.m.

Diese Konzepte sind keine losen Analogien. Sie sind übertragbare Prinzipien, die in beiden Feldern – Sport und Wirtschaft – tragfähig sind. Und sie alle stammen aus dem Fundus der angewandten Sportpsychologie und angrenzenden Feldern.

Wissenschaftlichkeit vs. Wirksamkeit – ein ungesunder Dualismus?

In der Psychologie – besonders in der Sportpsychologie – wird viel über Evidenz gesprochen. Über Studien, über valide Messungen, über Effektstärken. Und das ist gut so. Wissenschaftliche Fundierung schützt uns vor Willkür, sie sorgt für Qualität, und sie ist eine wichtige Grundlage unserer Arbeit. Aber sie ist nicht die einzige. Denn zwischen der kontrollierten Laborbedingung und der rauen Realität auf dem Spielfeld oder im Unternehmen liegen oft Welten. Kein Mensch funktioniert wie eine Versuchsperson im Fragebogen. Kein Teamprozess lässt sich vollständig in ein Experimentaldesign pressen. Und keine Krise folgt dem Lehrbuch. Was machen wir also mit all dem, was funktioniert, aber (noch) nicht messbar ist? Ignorieren wir es? Reden wir es klein? Oder gestehen wir uns ein, dass unsere Methoden manchmal an ihre Grenzen kommen – und dass genau da die Erfahrung, die Intuition, die Beziehung ins Spiel kommt? Wir kennen den Satz: „Wer heilt, hat recht.“ Er klingt provokant – gerade in wissenschaftlichen Kreisen. Aber vielleicht steckt darin auch eine Erinnerung daran, worum es im Kern geht: um Menschen. Um Wirkung. Um Entwicklung. Und manchmal auch darum, neue Wege zuzulassen, die sich nicht sofort in eine Tabelle einordnen lassen.

Die Wahrheit ist: Wir brauchen beides. Wir brauchen gute Studien – und gute Gespräche. Wir brauchen Theorien – und die Fähigkeit, im Moment präsent zu sein. Wir brauchen wissenschaftliches Denken – und menschliche Haltung. Wenn wir uns nur an die reine Wissenschaftlichkeit klammern, laufen wir Gefahr, das Eigentliche aus den Augen zu verlieren: dass unsere Arbeit mitten im Leben stattfindet. Dort, wo Menschen fühlen, zweifeln, kämpfen, wachsen. Und genau dort braucht es mehr als nur Daten, Zahlen und Fakten.

Kollegiales Miteinander oder akademisches Hauen und Stechen?

Es ist ein Phänomen, das vielen in der Praxis bekannt ist – und doch wird kaum offen darüber gesprochen: Statt Austausch erleben wir Abgrenzung. Statt ehrlicher Diskussion gibt es oft Spott oder vorschnelles Urteil. Besonders dann, wenn jemand neue Wege geht. Oder aus einer anderen Richtung kommt. Oder sich traut, Dinge zu verbinden, die auf den ersten Blick nicht „zusammengehören“. Mentaltrainer*innen, Life-Coach:innen, Athlet:innen, Kolleg:innen, Führungskräfte, Coaches, Praktiker*innen aus dem Sport – sie alle erleben immer wieder dieselbe Reaktion: Misstrauen. Zweifel. Und nicht selten: offene Ablehnung. Und zwar nicht von außenstehenden Laien, sondern aus den eigenen Reihen – die eigentlich dasselbe Ziel verfolgen: Menschen besser begleiten zu können. Warum ist das so?

Vielleicht, weil unsere Disziplin noch immer um ihren Platz ringt. Die Psychologie war lange auf der Suche nach Anerkennung, nach wissenschaftlicher Seriosität. Und jetzt, wo sie diesen Platz gefunden hat, verteidigen ihn manche wie eine Festung – mit Mauern statt mit Brücken. Alles, was nicht in das gewohnte Raster passt, wird schnell zum Risiko erklärt. Zum Störfaktor. Oder schlimmer noch: zur „Gefahr für die Profession“. Doch in Wirklichkeit ist es oft ganz anders. Die Menschen, die außerhalb des klassischen Weges denken, handeln nicht gegen die Wissenschaft – sie handeln für die Wirksamkeit. Sie suchen nach Zugängen, wo andere längst aufgegeben haben. Sie begegnen dem Menschen – nicht nur dem Symptom. Und manchmal, so ehrlich muss man sein, sind es schlicht Eitelkeit, Statusdenken oder Angst vor Kontrollverlust, die hinter der Abwertung stehen. Denn wer urteilt, muss sich nicht auseinandersetzen. Wer lästert, schützt sich vor der eigenen Unsicherheit. Und wer spaltet, muss sich nicht verbinden. Aber wohin führt uns das? Was wäre möglich, wenn wir aufhören würden, uns gegenseitig zu messen – und anfangen würden, voneinander zu lernen?

Ein Plädoyer für eine offene Sportpsychologie

Die Sportpsychologie hat sich in den letzten Jahren enorm entwickelt. Sie ist sichtbarer geworden, relevanter, greifbarer. Und doch steht sie heute an einem Scheideweg: Will sie sich weiter über Abgrenzung und wissenschaftliche Reinheit definieren – oder beginnt sie, sich mutig zu öffnen für das, was außerhalb ihrer eigenen Lehrbuchgrenzen längst wirkt?

Ich glaube: Es ist Zeit für eine neue Haltung. Eine Haltung, die nicht entweder- oder denkt, sondern sowohl-als-auch. Eine Haltung, die anerkennt, dass echte Entwicklung nicht nur in Theorien stattfindet, sondern im direkten Kontakt mit Menschen. Und eine Haltung, die es zulässt, dass auch andere Perspektiven – Coaching, Live-Coaching, Erfahrungswissen, intuitive Zugänge – ihren Platz haben dürfen, wenn sie verantwortungsvoll und mit Haltung ausgeübt werden. Wir brauchen mehr Dialog. Mehr Neugier. Mehr Mut, auch das Unvollständige, das Nicht-Messbare, das Zwischenmenschliche als Teil von Professionalität zu verstehen. Denn das Ziel bleibt dasselbe – egal ob auf dem Rasen oder im Konferenzraum: Menschen in ihrer Kraft zu begleiten. Sie darin zu unterstützen, über sich hinauszuwachsen. Stabil zu bleiben, wenn es zählt. Und zu lernen, mit Druck, Fehlern, Krisen und Erfolgen umzugehen. Wenn wir das ernst nehmen, dann können wir es uns nicht leisten, in Disziplin-Grabenkämpfen zu verharren. Dann braucht es Menschen, die Brücken bauen. Die Perspektiven verbinden. Die nicht fragen: „Wer darf das?“, sondern: „Was hilft dem Menschen wirklich?“ Vielleicht beginnt genau hier eine neue Form der Sportpsychologie. Nicht als Gegensatz zur Wissenschaft – sondern als Erweiterung. Als gelebte Verbindung von Verstand und Herz, von Methode und Menschlichkeit, von Theorie und Erfahrung. Und vielleicht wird aus dem Ringen um Deutung irgendwann ein Raum für Resonanz – in dem nicht das Rechthaben zählt, sondern das gemeinsame Verstehen.

Prof. Dr. René Paasch

Prof. Dr. René Paasch

Professor für Sportpsychologie und Life Coaching

Ich bin verheiratet, habe 7 Kinder und lebe inzwischen in Bayern. Als Familienmensch haben Werte wie Vertrauen, Offenheit und Verantwortung einen hohen Stellenwert für mich.
In meiner Arbeit als Sportpsychologe und Life Coach vertrete ich eine ganzheitliche Sicht. Egal ob Spitzen- oder Breitensport, Beruf oder Privat – jede Situation hat bringt eigene Herausforderung mit, weshalb mich immer das Gesamtpaket interessiert und begeistert.
Weil keine Begleitung und Betreuung der vorherigen gleicht, liebe ich meine Arbeit. Ich verstehe mich dabei als Coach und Mentor und bringe mein gesamtes Wissen und mein Netzwerk in eine Zusammenarbeit mit ein.