Der Blog für Sportpsychologie und Life Coaching

Selbstmitgefühl – Eine unterschätzte Ressource in Sport und Business

von | 18.09.24 | Hanna Tempelhagen, Positive Coaching, Positive Psychologie, Selbstmitgefühl, Sportpsychologie, The Mindful Spaces Team & Partner

Ob es der Druck ist, der auf Fußballer wie Harry Kane bei einem Elfmeter in der letzten Spielminute lastet, oder die immense Verantwortung, die Führungskräfte in großen Unternehmen wie Tesla tragen – Herausforderungen und Rückschläge sind sowohl im Sport als auch im Business unvermeidlich. In solchen Momenten entscheidet oft die mentale Stärke darüber, ob man gestärkt zurückkommt oder in Selbstzweifeln versinkt. Während Disziplin und Durchhaltevermögen als zentrale Erfolgsfaktoren gelten, rückt ein weniger beachteter Aspekt zunehmend in den Vordergrund: Selbstmitgefühl. Dieses Konzept ist keine „weiche“ Alternative zur harten Selbstkritik, sondern eine wertvolle Ressource, die sowohl die emotionale Belastbarkeit als auch die Leistungsfähigkeit stärkt.

Dieser Blogbeitrag, den meine Kollegin Hanna und ich verfasst haben, beleuchtet die Bedeutung von Selbstmitgefühl für Sportler*innen und Führungskräfte. Wir werden die Grundlagen des Selbstmitgefühls erklären, seine spezifischen Vorteile für verschiedene Lebensbereiche aufzeigen und praktische Übungen anbieten, die helfen, Selbstmitgefühl direkt im Alltag anzuwenden – egal ob auf dem Spielfeld oder im Meetingraum.

Zum Thema: Selbstmitgefühl – oder wie ich lernte, mir selbst eine gute Freundin oder Freund zu sein

„Du Idiot. Hanna, wie konnte dir das passieren? Schau mal in den Spiegel, du bist so ein Looser. Ich hasse dich!“ Gar nicht so einfach, diese harten Worte zu lesen… Doch genau so hat lange Zeit meine innere Stimme geklungen. Ständig hatte ich diesen kleinen Teufel auf meiner Schulter, der mir niederdrückende, kritische Worte ins Ohr flüsterte – ob nach einer schlecht gelaufenen Trainingseinheit, einem verlorenen Wettkampf oder einem Fehler im Job. Heute kann ich zum Glück sagen, dass ich Selbstmitgefühl für mich entdeckt habe. Diese Veränderung hat es mir ermöglicht, mir eine freundlichere, sanftere und mitfühlendere innere Stimme zuzulegen. Natürlich meldet sich der innere Kritiker immer noch von Zeit zu Zeit, doch ich gehe heute gelassener und freundlicher mit ihm um!

René kennt diese Dynamik ebenfalls gut – sowohl aus eigener Erfahrung als auch durch seine Arbeit als Sportpsychologe im Leistungssport. Ein Beispiel: Ein Profi-Fußballer, der nach einem verschossenen Elfmeter im entscheidenden Spiel in Selbstzweifeln versank. „Wie konntest du nur so versagen? Du hast dein Team enttäuscht,“ flüsterte ihm sein innerer Kritiker immer wieder zu. Diese negativen Gedanken blockierten ihn nicht nur im Sport, sondern wirkten sich auch auf sein Leben außerhalb des Spielfelds aus. Gemeinsam haben wir daran gearbeitet, diesen destruktiven inneren Dialog durch Selbstmitgefühl zu ersetzen. So konnte er wieder zu seiner mentalen Stärke finden und sich selbst nach Fehlern mit Freundlichkeit begegnen.

Wir wissen aus eigener Erfahrung und aus unserer Arbeit als Coaches für Achtsamkeit und Mentale Stärke, dass viele Sportler*innen und Performer*innen im Allgemeinen einen starken inneren Kritiker haben, der sie mit Selbstbestrafung motiviert und sie oft auf selbstzerstörerische Weise an ihre Grenzen bringt. Dieses Verhalten kann zu einer Verschlechterung der mentalen Gesundheit und zu emotionalem Leid führen. Auch die Forschung legt dies nahe (Reis et al., 2015; Ceccarelli et al., 2019; Mosewich, Crocker, & Kowalski, 2014).

Selbstmitgefühl – was ist das überhaupt?

Doch es gibt einen anderen Weg als harsche Selbstkritik und Selbstbestrafung. Es ist ein weniger destruktiver und gesünderer. Es ist eine Fähigkeit, die wir lernen können. Sie kann uns unterstützen, Spitzenleistungen zu erbringen: Selbstmitgefühl. Selbstmitgefühl ist eine Praxis, die mir hilft, mir selbst ein guter Freund zu sein, wenn ich eine schwierige Zeit erlebe, wenn ich es am meisten brauche – um ein innerer Verbündeter zu werden, anstatt ein innerer Feind.

Selbstmitgefühl bedeutet in einfachen Worten, dass du dich selbst so behandelst, wie du einen guten Freund oder eine gute Freundin behandeln würdest, wenn er oder sie eine schwere Zeit hat. Es erfordert ein Bewusstsein für dein eigenes persönliches Leiden und den Wunsch, dir selbst durch eine emotional schwierige Zeit zu helfen.

Selbstmitgefühl hat drei Komponenten

Für eine konkretere und umfassendere Definition von Selbstmitgefühl müssen wir seine Kernbestandteile betrachten: Selbstfreundlichkeit, Mitmenschlichkeit und Achtsamkeit (Neff, Germer, 2018):

Selbstfreundlichkeit versus Selbstverurteilung

Selbstfreundlichkeit bedeutet, dass wir unterstützend und ermutigend sind, anstatt uns selbst anzugreifen und für unsere Unzulänglichkeiten zu bestrafen. Wir bieten uns selbst Wärme und bedingungslose Akzeptanz an. Erinnere dich an eine Trainingseinheit oder ein Rennen, das nicht so gelaufen ist, wie du es erwartest hast, eine schwierige Situation bei der Arbeit, in der du einen Fehler gemacht haben. Wie hast du reagiert? Was hast du zu dir selbst gesagt? Wie hast du dich selbst in diesem Moment behandelt? Wahrscheinlich warst du nicht so freundlich und unterstützend zu dir selbst, oder?

Gemeinsames Menschsein versus Isolation

Das zweite Kernelement des Selbstmitgefühls ist die gemeinsame menschliche Erfahrung. Das bedeutet, dass wir anerkennen, dass Herausforderungen im Leben und persönliches Versagen Teil des Menschseins sind. Wir alle haben Schwierigkeiten im Leben, wir alle erfahren Leid – das ist eine unvermeidliche Tatsache des Lebens. Das Seltsame ist, dass wir glauben, dass die Dinge gut laufen sollten und dass etwas schief gelaufen sein muss, wenn sie es nicht tun. Es ist ganz natürlich, dass wir Fehler machen und dass wir Herausforderungen im Leben erleben. Dennoch neigen wir dazu, nicht rational darüber zu denken, wenn uns dies widerfährt. Stattdessen denken wir, dass wir die Einzigen sind, die eine schwere Zeit durchmachen, und wir fühlen uns in diesen Momenten isoliert und allein. In dem Moment, in dem wir uns daran erinnern, dass Leiden Teil der menschlichen Spezies ist und dass wir alle irgendwie leiden, verbinden wir uns wieder mit anderen. Und diese Verbindung hilft uns, mit den Schwierigkeiten im Leben umzugehen. Dies ist mit dem Element des gemeinsamen Menschseins gemeint.

Achtsamkeit versus Über-Identifikation

Achtsamkeit ist die dritte und eine wesentliche Komponente des Selbstmitgefühls. Denn wir müssen bereit sein, uns zuzuwenden und anzuerkennen, wenn wir leiden. Wir müssen lange genug bei diesem Schmerz “sein”, um mit Freundlichkeit und Fürsorge reagieren zu können. Um Selbstmitgefühl zu entwickeln, ist Achtsamkeit tatsächlich der erste Schritt, den wir “tun” müssen. Wir müssen präsent sein, uns dessen bewusst sein, was in Körper und Geist vor sich geht, wenn wir eine schwierige Zeit durchleben, um auf eine neue Art und Weise reagieren zu können – mit Freundlichkeit und Wärme.

Vorteile und Nutzen von Selbstmitgefühl

Nachdem wir die Komponenten und die Bedeutung von Selbstmitgefühl erforscht haben, lass uns einen kurzen Blick auf die Vorteile der Selbstmitgefühlspraxis werfen. Die Forschung über Selbstmitgefühl wird immer umfangreicher, vor allem durch die Arbeit von Christopher Germer, PhD, und Kristin Neff, PhD – beides Pioniere und Experten auf dem Gebiet des Selbstmitgefühls und Gründer des Center for Mindful Self-Compassion.

Das Praktizieren von Selbstmitgefühl unterstützt unser gesamtes Wohlbefinden (MacBeth, Gumley, 2012; Zessin, Dickhauser, Garbade, 2015; Neff et al., 2018):

  • weniger Depression
  • weniger Ängstlichkeit
  • weniger Stress
  • weniger Schamgefühle
  • mehr Selbstvertrauen
  • höhere Resilienz
  • höhere Lebenszufriedenheit
  • erhöhtes Wohlbefinden

Selbstmitgefühl steigert nicht nur unser Wohlbefinden, sondern auch unsere Fähigkeit, wieder auf die Beine zu kommen (Resilienz). Menschen mit Selbstmitgefühl haben weniger Angst vor Misserfolg (Neff et al., 2005) und eine höhere Motivation, nach einem Misserfolg zu lernen (Braines, Chen, 2012). Es gibt noch viele weitere Untersuchungen über die Vorteile der Selbstmitgefühlspraxis. Werfen wir einen spezifischen Blick auf die Vorteile für Sportler*innen:

Vorteile und Nutzen des Selbstmitgefühl

Im Bereich des Sports wurde untersucht, wie Selbstmitgefühl Sportlern und Sportlerinnen helfen kann, mit emotional herausfordernden Rückschlägen oder Hindernissen umzugehen, denen sie begegnen. Hier ist eine Zusammenfassung der Ergebnisse.

Athleten und Athletinnen, die Selbstmitgefühl praktizieren

  • haben eine höhere intrinsische Motivation zu trainieren (Magnus et al. 2010)
  • und mehr gesundheitsbezogene als egobezogene Trainingsziele
  • sowie konstruktivere Reaktionen (positiv, ausdauernd, verantwortungsbewusst)
  • weniger maladaptive Reaktionen (grübelnd, passiv, selbstkritisch) auf schwierige Sportsituationen (Ferguson et al., 2015)
  • reagieren produktiver auf negative Sporterfahrungen – weniger Selbstkritik und Sorgen über Fehler (Mosewich et al., 2013)
  • können die negativen Emotionen, die sie aufgrund von Verletzungen erleben, besser bewältigen (Huysmans & Clement, 2017)
  • sich schneller von Rückschlägen im Sport erholen, was zu einer verbesserten Leistung führen kann (Ceccarelli et al., 2019)
  • und die sich von einer Verletzung rehabilitieren, neigen dazu, mental widerstandsfähiger zu sein, mehr Bewältigungsressourcen zu haben und weniger Selbstkritik zu üben (Johnson, 2020)

Selbstmitgefühl trainieren

Nun haben wir uns mit dem Selbstmitgefühl und seinen Vorteilen befasst – im Allgemeinen und für Sportler*innen. Selbstmitgefühl ist eine Fähigkeit und lässt sich somit trainieren. Doch welche Möglichkeiten gibt es? Im nächsten Abschnitt stellen wir dir kurz ein bekanntes Selbstmitgefühlstraining vor.

Selbstmitgefühl kann auf unterschiedliche Weise praktiziert werden. Es gibt viele Übungen, informelle Praktiken und formelle Meditationen. Wenn du die Fähigkeit systematisch entwickeln möchtest, dir selbst gegenüber ein freundlicher und mitfühlender Freund zu sein, gibt es z.B. das evidenzbasierte 8-Wochen-Training Achtsames Selbstmitgefühl (MSC), das von Christopher Germer und Kristin Neff entwickelt wurde. Das Training folgt einer systematischen Struktur. Es wird in einem Gruppenrahmen von qualifizierten Lehrer*innen unterrichtet, die eine fundierte Ausbildung absolvieren und sich zu einer fortlaufenden Praxis verpflichten (Hanna ist ausgebildete MSC-Lehrerin).

Die folgenden Selbstmitgefühlsübungen sind alle Teil des MSC-Trainings:

– Selbstmitgefühlspause

– Mitfühlende Bewegung

– Liebevolles Atmen

– Selbstmitgefühlsübungen im täglichen Leben

– Fußsohlen

– Liebevolle Freundlichkeit

– Mitgefühl geben und empfangen

Wenn du mehr zum MSC Selbstmitgefühls-Training & Team erfahren möchtest, dann schau gern auf die MSC Online Kurs I Mindful Self-CompassionI Lerne Selbstmitgefühl (themindfulspaces.com) vorbei. Dort findest du eine ausführliche Beschreibung!

Fazit

Selbstmitgefühl ist eine unterschätzte, aber unglaublich wertvolle Ressource, die sowohl im Sport als auch im Business zu besserer Leistung, höherer Resilienz und mentaler Gesundheit führen kann. Es bietet einen alternativen Weg zur üblichen harten Selbstkritik und Selbstbestrafung und fördert stattdessen eine konstruktive, freundliche Haltung sich selbst gegenüber. Diese Fähigkeit hilft nicht nur dabei, emotionalen Stress und Rückschläge zu bewältigen, sondern stärkt langfristig das Wohlbefinden und die Leistungsfähigkeit. Wer lernt, sich selbst mit der gleichen Freundlichkeit und Unterstützung zu begegnen, die er anderen entgegenbringt, legt den Grundstein für eine nachhaltigere und gesündere Karriere – sei es auf dem Spielfeld oder im Berufsleben.

Take Home Message

Selbstmitgefühl ist kein Zeichen von Schwäche, sondern eine mentale Stärke, die jeder von uns trainieren kann. Es bedeutet, sich selbst in schwierigen Momenten so zu behandeln, wie wir es für einen guten Freund oder eine gute Freundin tun würden. Durch diese Haltung verbessern wir nicht nur unsere emotionale Widerstandsfähigkeit, sondern schaffen die Basis für langfristigen Erfolg – im Sport, im Job und im Leben.

Literatur

Cecarelli et al. (2019). Self-compassion and psycho-physiological recovery from recalled sport failure. Frontiers in Psychology, 10, 1-14. doi:10.3389/fpsyg.2019.01564

Ferguson et al. (2015). Self-Compassion and eudaicmonic well-being during emotionally difficult times in sport. Journal of Happiness Studies, 16(5), 1263-1280.

Germer, C., & Neff, K. (2019). Teaching the Mindful Self-Compassion Program: a guide for professionals. New York: Guilfort Press.

Huysmans, Z., & Clement, D. (2017). A preliminary exploration of the application of self-compassion within the context of sport injury. Journal of Sport & Exercise Psychology, 39, 56-66. doi:10.1123/jsep.2016-0144

Kuchar, A. L., Neff, K., & Mosewich, A. D. (2023). Resilience and enhancement in Sport, Exercise, & Training (RESET): A brief self-compassion intervention with NCAA student-athletes. Psychology of Sport & Exercise, 67, 102426. https://doi.org/10.1016/j.psychsport.2023.102426

Jansen, P. (2023). Selbstmitgefühl im Sport: Selbsthilfe in sportlichen Krisen. Springer: Berlin, Heidelberg.

Jansen, P., Hoja, S., & Meneghetti, C. (2021). Does rumination and worry mediate the relationship between self-compassion and sport anxiety in female and male athletes of different kind of sports? Cogent Psychology 8(1), 1909243. https://doi.org/10.1080/23311908.2021.1909243

Magnus et al. (2010). The role of self-compassion in women’s self-determined motives to exercise and excercis-related outcomes. Self and Identity, 9, 363-382.

Mosewich et al. (2013). Applying self-compassion in sport: An intervention with women athletes. Journal of Sport and Excercise Psychology, 35(5), 514-524.

Röthlin, P., Horvath, S., & Birrer, D. (2019). Go soft or go home? A scoping review of empirical studies on the role of self-compassion in the competitive sport setting. Current Issues in Sport Science, 4, Article 013. http://dx.doi.org/10.15203/CISS_2019.013

Reis et al. (2019). Exploring self-compassion and versions of masculinity in men athletes. Journal of Sport and Exercise Psychology, 41, 368-379. doi:10.1123/jsep.2019-0061

Das „The Mindful Spaces – das professionnelle Coaching- und Beratungsinstitut für Mindfulness & Compassion im Business – im Leben – im Sport“ findest du hier: THE MINDFUL SPACES: MINDFULNESS. COMPASSION. LEADERSHIP

Prof. Dr. René Paasch

Prof. Dr. René Paasch

Professor für Sportpsychologie und Life Coaching

Ich bin verheiratet, habe 7 Kinder und lebe inzwischen in Bayern. Als Familienmensch haben Werte wie Vertrauen, Offenheit und Verantwortung einen hohen Stellenwert für mich.
In meiner Arbeit als Sportpsychologe und Life Coach vertrete ich eine ganzheitliche Sicht. Egal ob Spitzen- oder Breitensport, Beruf oder Privat – jede Situation hat bringt eigene Herausforderung mit, weshalb mich immer das Gesamtpaket interessiert und begeistert.
Weil keine Begleitung und Betreuung der vorherigen gleicht, liebe ich meine Arbeit. Ich verstehe mich dabei als Coach und Mentor und bringe mein gesamtes Wissen und mein Netzwerk in eine Zusammenarbeit mit ein.