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Die Würde der Nachwuchsspieler ist unantastbar

von | 07.05.24 | Prof. Dr. René Paasch

Wir leben in einer sich immer schneller um sich selbst drehenden und komplizierter werdenden Fußballwelt. Viele Eltern und Spieler haben das Gefühl oder es bereits selbst erlebt, dass der Leistungsdruck und die Bewertungen im Vordergrund stehen und demgegenüber die dafür notwendige individuelle Wertschätzung immer mehr verloren geht. Die Sehnsucht nach Nähe, Respekt, Ehrlichkeit, Anstand, Verbundenheit und der Wunsch, im Hier und Jetzt zu leben, sind riesig. Doch was ist die menschliche Würde und wie können wir diese in den Nachwuchsleistungszentren verbessern?  

Zum Thema: Der Nachwuchsfußball und die Würde – ist das miteinander zu vereinbaren?

Eltern und Spieler spüren eine tiefe Sehnsucht in sich, dass noch viel mehr möglich ist als wir gerade im Nachwuchssport erleben. Sie suchen bewusst oder unbewusst nach einer größeren Befriedigung als den Leistungsdruck, die Ergebnisse und die bewertungsorientierten Gegebenheiten. Ich möchte zeigen, dass es auch anders funktionieren kann. Es ist mein Herzensprojekt für das Jahr 2019. Ich will mit dem Thema „Würde im Leistungssport Fußball“ möglichst viele Menschen inspirieren und im Ergebnis Hoffnung und Mut machen, dass es anders geht. Ich bin davon überzeugt, dass wir ohne eine gewisse Umkehr, in unserer immer komplexer werdenden Fußballwelt auf schlechte Zeiten zusteuern.

Wonach wir im Leistungssport gemeinsam suchen sollten, ist ein innerer Kompass, den jeder Spieler im Laufe seiner Karriere entwickelt. Er hilft, sich in der Vielfalt der von außen an den Spieler herangetragenen Anforderungen und Angeboten orientieren zu können. Dazu zählen nicht nur die vielen finanziellen Verlockungen und Konsumgüter, die ihm von Spielerberater oder Vereinen angeboten werden. Es ist auch all das, was jemand als Notwendigkeiten und unabwendbare Gegebenheiten betrachtet, welche er zu akzeptieren hat. Kein Spieler kann die in ihm angelegten Stärken entfalten, wenn er in seiner Würde von anderen verletzt wird.

Würde

Die Würde ist eine Vorstellung, die jeder Heranwachsende anhand seiner im Zusammenleben mit anderen gemachten positiven Erfahrungen entwickelt. Diese Vorstellung ist tief in uns verwurzelt. Sie bringt das gewonnene Wissen zum Ausdruck, wie dieses Zusammenleben gestaltet werden müsste. Diese mehr oder weniger deutlich ausgeprägte Vorstellung wird dann als inneres Bild genutzt, sodass ein Zusammenleben gelingen kann. Die Vorstellung von der eigenen Würde wird also zu einem wesentlichen Bestandteil des Selbstbildes. Kein heranwachsender Fußballer kann die in ihm angelegten Stärken entfalten, wenn er wie eine „Leistungsmaschine“ behandelt oder benutzt wird. Er entwickelt dann all das, was jemand als notwendig betrachtet (Verlust von Autonomie, hierarchische Strukturen, Athletiktraining, Individualtraining, taktische Vorgaben, Verhaltensweisen, Reisebereitschaft, Verlust von Freizeitaktivitäten u.v.m.).

Damit ein junger Spieler den Mut aufbringt und die notwendigen Kräfte mobilisieren kann, muss es etwas geben, dass ihn kräftiger und handlungsbestimmender wirken lässt. Aus neurobiologischer Sicht handelt es sich dabei um ein inneres Bild, das sehr eng an die Vorstellungen der eigenen Identität gekoppelt und damit zwangsläufig auch sehr stark mit emotionalen Netzwerken verknüpft ist (Hüther, 2018). Es geht dabei um eine innere Vorstellung, wie man sein möchte. Für diese Orientierung gibt es diese wunderbare Bezeichnung: Würde!

Konstruktiver Individualist

Die ersten Erfahrungen hinsichtlich der Stärkung der Würde machen junge Nachwuchsspieler nach Kita und Grundschule in den Nachwuchsleistungszentren. Aber schon die für diese Vereine inzwischen eingeführte Bezeichnung „Nachwuchsleistungszentrum (NLZ)“ macht ja recht deutlich, worum es dort primär geht. Nicht um die Entfaltung, der in den Kindern und Jugendlichen angelegten menschlichen Potentiale, nicht um Erfahrungen, die ihnen ein Bewusstwerden ihrer Würde ermöglichen, sondern um einen Ort, an dem sie sich aufhalten und nach Leistung bewertet werden. Die Bezeichnung Leistung aber bringt nur zum Ausdruck, dass sie dort fremdbestimmt geführt und bewertet werden. So können Erziehungsberechtigte nur hoffen, dass die Trainer mehr darunter verstehen und es ihnen ein Anliegen ist, das Empfinden der Kinder und Jugendliche für das zu stärken, was ihre Würde ausmacht. Erkennen lässt sich das daran, dass Trainer die ihnen anvertrauten Kinder und Jugendliche nicht zu Objekten ihrer Erwartungen und Bewertungen, ihrer Belehrungen und der eigenen Karriere machen. Sie brauchen die Begegnung und den wertschätzenden Austausch mit all jenen im Fußball, die sich ihrer Würde bewusst sind. Nur so kann es gelingen, dass auch diese Trainer allmählich eine zunehmend klare Vorstellung und damit auch ein Bewusstsein ihrer eigenen Würde entwickeln. Dann werden sie das, was sie in den Nachwuchsleistungszentren tun, sehr wahrscheinlich auch nicht länger „Leistung“ nennen.

Denn Kinder und Jugendliche sind keine Leistungsmaschinen. Sie dürfen nicht zurechtgestutzt und nach Belieben verbogen werden, damit sie möglichst viel Ertrag und Leistung bringen. Vielleicht gelingt es den Verantwortlichen, Eltern, Trainern künftig besser als bisher, möglichst vielen Spielern bereits vor dem Eintritt in die Erwachsenenwelt dabei zu helfen, das Empfinden für ihren Wert und für ihre eigene Bedeutsamkeit als Individuum zu stärken. Sie lernen dann von ganz allein, anderen Personen so zu begegnen, dass sie deren Würde nicht verletzen. Weil sie sich selbst als konstruktiven Geist wahrnehmen.   

Herausbildung eines Selbstbildes

Der Prozess der Herausbildung eines Selbstbildes, welches die eigene Eingebundenheit in eine menschliche Gemeinschaft verinnerlicht und als innerer Unterstützer hilft, braucht Zeit und Geduld (Kuhl, Künne, Aufhammer, 2011). Das alles lässt sich nicht erzwingen. Es kann nur durch menschliches Aufeinandertreffen und in sich selbst entwickelt werden. Der damit einhergehende Selbstbildungsprozess lässt sich somit nicht beschleunigen. Gelingen kann er nur in einem geschützten und wertschätzenden Verein oder in dessen Umgebung. Von dieser zur Selbstbestimmung erforderlichen Maßnahmen ist in unseren heutigen Nachwuchsleistungszentren nur wenig zu spüren. Wo finden die Heranwachsenden noch Gelegenheiten, die in ihnen angelegten Talente und Begabungen auf eine spielerische Weise zu erproben und ihrer angeborenen Freude am selbständigen Entdecken und am gemeinsamen Gestalten nachzugehen? Stattdessen werden sie ausgebildet, belehrt, kontrolliert, geprüft und bewertet, geradeso als seien sie nach den Vorstellungen von Trainern formbare Marionetten.

Kein Wunder, dass nicht wenigen dabei die Lust am Leistungssport vergeht. Wie soll jemand, der von Kindesbeinen an ständig gesagt bekommt, was er zu machen hat, seinen Weg finden? Wo können sie all die vielen eigenen Erfahrungen machen, die sie als Grundlage für diesen komplizierten Selbstfindungsprozess brauchen? Und wo haben sie noch Zeit und Ruhe, um über sich selbst nachzudenken und sich zu fragen, wie sie ihr sportliches und privates Leben gestalten und wie sie mit anderen zusammenleben wollen? Heranwachsende, die im Leistungssport Fußball erfahren müssen, dass sie immer wieder zum Gegenstand der Erwartungen, der Bewertungen, der Belehrungen und Vorgaben ihrer Trainer gemacht und damit unwürdig behandelt werden, müssen sogar versuchen, das in ihnen angelegte Empfinden eigener Würde zu unterdrücken. Die Konsequenz ist verheerend.

Fazit

Dass die uns anvertrauten Kinder und Jugendliche ihr angelegtes Potential in den Nachwuchsleistungszentren entfalten, ist aus meiner Sicht nur in Ansätzen zu erkennen. Der Grund dafür ist nicht die begrenzte Entwicklungsfähigkeit, sondern unsere Unfähigkeit zur Herausbildung und Einstellung von empathischen und fürsorglichen Trainern. Solche sozial kompetenten Trainer zeichnen sich dadurch aus, dass sie jedem einzelnen Spieler nicht nur größtmögliche Freiräume, sondern auch optimale Möglichkeiten und Anregungen für seine individuelle Entwicklung bieten und gleichzeitig ein Höchstmaß an Verbundenheit und Geborgenheit gewährleisten.

Die Vereine solcher individualisierten Vorgehensweisen machen sich nicht länger zu Trägern ihrer jeweiligen Ergebnisse und Interessen. Stattdessen begegnen sie einander als Mensch. Was wir brauchen sind Entscheider, also Vorstände, Sportdirektoren, Abteilungsleiter und Trainer, die ihre Spieler einladen, ermutigen und inspirieren, über sich hinauszuwachsen und an sich zu glauben.

Literatur

Kuhl, J./Künne, T./Aufhammer, F.: Wer sich angenommen fühlt, lernt besser: Begabungsförderung und Selbstkompetenzen. In: Kuhl, J./Müller-Using, S./Solzbacher, C./Warnecke, W. (Hrsg.): Bildung durch Beziehung. Selbstkompetenz stärken – Begabungen entfalten. Freiburg: Herder 2011

Hüther, Gerald, Hauser, U. (2018) Würde: Was uns stark macht – als Einzelne und als Gesellschaft. Albrecht Knaus Verlag.

Internet: Hüther, Gerald (2009): Die Herausbildung von Ich-Bewusstsein und von Authentizität: Der Vortrag geht der Frage nach, wie Menschen in modernen Gesellschaften ihrer Selbst bewusstwerden und authentisch, aus sich selbst heraus handeln können. https://www.gerald-huether.de/Mediathek/Bewusstsein/Ich_bewusstsein.mp4

Prof. Dr. René Paasch

Prof. Dr. René Paasch

Professor für Sportpsychologie und Life Coaching

Ich bin verheiratet, habe 7 Kinder und lebe inzwischen in Bayern. Als Familienmensch haben Werte wie Vertrauen, Offenheit und Verantwortung einen hohen Stellenwert für mich.
In meiner Arbeit als Sportpsychologe und Life Coach vertrete ich eine ganzheitliche Sicht. Egal ob Spitzen- oder Breitensport, Beruf oder Privat – jede Situation hat bringt eigene Herausforderung mit, weshalb mich immer das Gesamtpaket interessiert und begeistert.
Weil keine Begleitung und Betreuung der vorherigen gleicht, liebe ich meine Arbeit. Ich verstehe mich dabei als Coach und Mentor und bringe mein gesamtes Wissen und mein Netzwerk in eine Zusammenarbeit mit ein.