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Entscheiden unter Druck: Wenn Emotion, Fairness und Selbstwirksamkeit aufeinandertreffen – Der Fall Zverev als Spiegel sportpsychologischer Realität

von | 05.05.25 | Mentale Performance, Sportpsychologie, Thorsten Loch

Im professionellen Tennissport entscheiden oft Millimeter über Sieg oder Niederlage – und manchmal auch über das Verhalten ganzer Sportnationen. Im Mai 2025 sorgte Alexander Zverev für Schlagzeilen, als er beim ATP-Masters in Madrid in einem Drittrundenmatch gegen Alejandro Davidovich Fokina plötzlich sein Smartphone zückte. Nicht etwa, um Nachrichten zu checken, sondern um einen Ballabdruck auf dem Sandplatz zu fotografieren. Der Hintergrund: Ein strittiger Ball wurde durch das elektronische Linienüberwachungssystem (Electronic Line Calling, kurz ELC) als „gut“ bewertet. Zverev hingegen war überzeugt, dass der Ball klar im Aus war. Der Schiedsrichter durfte laut Reglement den Abdruck nicht prüfen – also entschied sich Zverev zum Alleingang. Das Bild zeigte er dem Schiedsrichter – und kassierte prompt eine Verwarnung wegen unsportlichen Verhaltens. „Ich wollte einfach, dass es fair bleibt. Für mich war der Ball klar draußen“, soll Zverev später gegenüber einem Journalisten gesagt haben. Ein kurioser Regelbruch? Ein impulsiver Ausrutscher? Oder steckt hinter diesem Verhalten mehr? Die Sportpsychologie liefert wertvolle Hinweise, wie Athlet:innen unter Druck denken, fühlen und handeln – und was wir daraus für Coaching, Training und unseren Alltag lernen können.

Zum Thema: Kognitive Grundlagen: Verhalten zwischen Intuition, Norm und Handlungskontrolle

Zverevs Verhalten lässt sich hervorragend mit der Theory of Planned Behavior (Ajzen, 1991) erklären. Diese Theorie beschreibt drei zentrale Einflussfaktoren, die darüber entscheiden, ob und wie ein Verhalten ausgeführt wird:

  1. Die persönliche Einstellung zum Verhalten
  2. Die subjektive Norm, also die wahrgenommene Erwartung der Umwelt
  3. Die wahrgenommene Verhaltenskontrolle, also das Gefühl, tatsächlich handeln zu können

Im Fall von Zverev sind alle drei Faktoren erkennbar:

  • Einstellung: Zverev war fest davon überzeugt, dass der Ball seines Gegners im Aus war. Sein Verhalten diente einem inneren Gerechtigkeitsempfinden.
  • Subjektive Norm: Das Match war live im Fernsehen, der Druck durch Publikum und Medien hoch. Der Gedanke, sich „nicht alles gefallen lassen zu können“, wird durch soziale Erwartungen verstärkt.
  • Verhaltenskontrolle: Er hatte ein Mittel zur Verfügung (Smartphone), einen klar sichtbaren Abdruck und das Gefühl, durch eigenes Handeln die Entscheidung beeinflussen zu können.

Damit wird deutlich: Sein Verhalten war nicht bloß emotional oder unüberlegt – es war die Folge eines inneren Aushandlungsprozesses, geprägt durch subjektive Bewertung, sozialen Druck und situative Handlungsoptionen.

Stress und Bewältigung: Ein zweiter psychologischer Blickwinkel

Neben kognitiven Modellen wie der Theory of Planned Behavior bietet auch das transaktionale Stressmodell von Lazarus & Folkman (1984) eine wertvolle Perspektive zur Erklärung von Verhaltensreaktionen in akuten Belastungssituationen – insbesondere im Hochleistungssport. Dieses Modell versteht Stress nicht als bloßes Reiz-Reaktions-Phänomen, sondern als das Ergebnis einer individuellen Bewertung der Situation (Appraisal) im Zusammenspiel mit den wahrgenommenen Bewältigungsmöglichkeiten.

Zentral sind zwei kognitive Bewertungsprozesse:

  1. Primäre Bewertung (primary appraisal): Hier wird eingeschätzt, ob die Situation für die Person bedeutsam ist und potenziell als schädlich, bedrohlich oder herausfordernd erlebt wird.
  2. Sekundäre Bewertung (secondary appraisal): In einem zweiten Schritt wird reflektiert, ob und welche Handlungsmöglichkeiten zur Verfügung stehen, um mit der Situation umzugehen.

Im Fall von Alexander Zverev lässt sich rekonstruieren, dass er die Entscheidung des elektronischen Linienüberwachungssystems (ELC) als ungerecht und leistungsrelevant empfand – eine klassische Stressauslösung im Sinne einer Bedrohung der Handlungsgerechtigkeit. Diese Einschätzung aktiviert das Stresssystem und kann zu einem intensiven emotionalen Zustand führen, insbesondere wenn Kontrollverlust wahrgenommen wird. In der sekundären Bewertung nahm Zverev offenbar Handlungsspielraum wahr: Der Abdruck war sichtbar, das Smartphone griffbereit. Aus Sicht des Modells entschied er sich für eine Form des problemorientierten Copings (problem-focused coping) – also für aktives, auf die Veränderung der Situation gerichtetes Verhalten. Indem er den Ballabdruck fotografierte und dem Schiedsrichter zeigte, versuchte er, Kontrolle über die Bewertung des Spielgeschehens zurückzugewinnen. Auch wenn dies gegen das Regelwerk verstieß, war es aus psychologischer Sicht eine adaptive Bewältigungsstrategie, die auf Wiederherstellung subjektiver Fairness und Einflussnahme zielte. Hier schließt sich auch das Konzept der Selbstwirksamkeit (Bandura, 1997) an – das Vertrauen in die eigene Fähigkeit, Herausforderungen kompetent zu begegnen. Zverevs Verhalten zeigt, dass er nicht in Passivität oder Verzweiflung fiel, sondern aktiv gestaltend eingriff. Dies unterstreicht die enge Verzahnung von Stressbewältigung, Handlungsorientierung und innerem Kontrollglauben im Spitzensport.

Praxisperspektive: Was Trainer:innen und Athlet:innen daraus lernen können

Gerade im Hochleistungskontext sind Situationen emotionaler Überforderung keine Seltenheit. Stress ist dabei nicht grundsätzlich negativ – im Gegenteil: Eine gut bewältigte Stressreaktion kann zur Weiterentwicklung beitragen. Entscheidend ist jedoch, wie Athlet:innen lernen, Stress bewusst zu reflektieren und zu regulieren. Dazu zählen:

  • Die Frühwarnzeichen individueller Stressreaktion (körperlich, emotional, kognitiv) zu erkennen
  • Coping-Repertoires zu erweitern (z. B. zwischen problemorientierter und emotionsorientierter Bewältigung zu unterscheiden)
  • Fallbeispiele wie das von Zverev im Mentaltraining zu nutzen, um ähnliche Situationen gedanklich durchzuspielen („mentale Simulation“)
  • Selbstwirksamkeit gezielt zu stärken, z. B. durch Rückmeldung, Erfolgserlebnisse oder die Arbeit mit persönlichen Stärken

Eine reflektierte Auseinandersetzung mit Stressmechanismen – auf individueller und systemischer Ebene – kann nicht nur zur Leistungsoptimierung beitragen, sondern auch langfristig psychischer Gesundheit, Entscheidungsqualität und Teamklima zugutekommen.

Impuls oder Strategie? Wie unser Gehirn unter Druck entscheidet

Neuropsychologisch betrachtet agieren Menschen in Hochdrucksituationen oft im limbischen Modus – gesteuert von Emotionen wie Ärger, Angst oder Frustration. Der präfrontale Kortex – zuständig für rationales Denken und Impulskontrolle – tritt kurzfristig in den Hintergrund. Doch auch in solchen Momenten greifen wir auf mentale Schemata, Werte und gewohnte Reaktionsmuster zurück. Der Griff zum Handy war bei Zverev keine Laune, sondern Ausdruck eines erlernten Handlungsmusters: „Ich tue etwas, wenn es unfair wird.“ Hier setzen sportpsychologische Strategien an – insbesondere die Implementation Intentions (Gollwitzer, 1999). Dabei entwickeln Athlet:innen im Vorfeld konkrete Handlungspläne für kritische Situationen. Diese Wenn-Dann-Pläne fördern die Selbstregulation und geben Struktur in emotionalen Ausnahmesituationen:

Praxisimpuls: Mentale Vorbereitung auf Stresssituationen

Ein bewährter Trainingsansatz ist das Einüben mentaler Handlungspläne – insbesondere für typische „Trigger-Momente“. Hier ein Beispiel aus dem mentalen Training im Leistungssport:

Wenn …Dann …
Ich fühle mich ungerecht behandeltIch atme dreimal tief durch und gehe zum Stuhl, bevor ich etwas sage.
Ich verliere einen wichtigen PunktIch richte meinen Blick auf den Boden und fokussiere den nächsten Ball.
Der Gegner provoziert michIch erinnere mich an meinen inneren Leitsatz: Ruhe gewinnt.

Diese Techniken lassen sich nicht nur im Profisport anwenden. Auch Schüler:innen, Führungskräfte, Ärzt:innen oder Eltern profitieren von solchen Strategien. Entscheidend ist, sich der eigenen Reaktionsmuster bewusst zu werden – und in ruhigen Momenten vorbereitende Alternativen zu entwickeln.

Vom Tennisplatz ins Leben – und zurück

Die Szene mit Alexander Zverev wirft ein Schlaglicht auf eine zentrale Frage, die weit über den Tennissport hinausreicht: Wie gehen Menschen in Momenten innerer Erregung mit emotionaler Spannung, subjektiver Ungerechtigkeit oder plötzlichem Kontrollverlust um? Es sind diese Situationen – ob auf dem Platz, im Büro, am Esstisch oder im Klassenzimmer – die oft wie ein Brennglas auf unser Verhalten wirken. Wenn Emotionen überkochen, zeigen sich nicht nur unsere automatischen Reaktionen, sondern auch unsere Fähigkeit zur Selbstregulation. Die Sportpsychologie spricht hier von Emotionsregulation unter Belastung – einem zentralen Aspekt mentaler Stärke. Studien zeigen, dass die Fähigkeit, eigene Emotionen wahrzunehmen, einzuordnen und situationsangemessen zu steuern, in fast allen Lebensbereichen ein Prädiktor für Erfolg, Wohlbefinden und Beziehungsqualität ist (Gross, 2015; Berking & Whitley, 2014). Dabei geht es keineswegs darum, Emotionen zu „kontrollieren“ oder zu unterdrücken – im Gegenteil: Ziel ist ein bewusster, akzeptierender und gleichzeitig handlungsorientierter Umgang mit dem, was in uns lebendig ist.

Zverevs Reaktion – emotional, impulsiv und zugleich zielgerichtet – zeigt beispielhaft, wie Emotion und Handlung in belastenden Situationen eng verwoben sind.

Für den Spitzensport ist das nicht neu: Hier werden Athlet:innen systematisch trainiert, in Sekundenbruchteilen zwischen Gefühl und Handlung zu unterscheiden und ihre Energie in konstruktive Bahnen zu lenken. Im Alltagsleben hingegen fehlt diese gezielte Vorbereitung oft. Dabei erleben auch Führungskräfte, Eltern, Lehrer:innen oder Pflegekräfte täglich hochkomplexe, emotional fordernde Situationen.

Alltagsrelevanz: Vom Tennisplatz ins Teammeeting, Klassenzimmer oder Familienleben

Emotionale Selbststeuerung ist eine Schlüsselressource im modernen Leben – vor allem in Zeiten zunehmender Komplexität, sozialer Spannungen und Leistungsdruck. Wer in kritischen Momenten innehält, reflektieren und bewusst reagieren kann, trifft nicht nur bessere Entscheidungen, sondern schützt auch seine Beziehungen, sein Selbstbild und seine psychische Gesundheit.

Praxisnahe Beispiele für „Zverev-Momente“ im Alltag:

  • Eine Führungskraft wird im Meeting öffentlich kritisiert und verspürt das Bedürfnis, sofort zu kontern
  • Ein Lehrer fühlt sich von einem Schüler provoziert und steht kurz davor, impulsiv zu reagieren
  • Ein:e Elternteil erlebt eine scheinbar ungerechte Behandlung im Umgang mit Behörden und kämpft mit dem Impuls, „mal richtig laut zu werden“

In all diesen Momenten entscheidet sich, ob aus Emotion blinder Aktionismus wird – oder bewusstes Handeln mit Haltung.

Der Beitrag sportpsychologischer Methoden

Hier zeigt sich das Potenzial sportpsychologischer Transferarbeit: Techniken wie mentales Training, Selbstgesprächsregulation, Körperachtsamkeit oder Imagination lassen sich aus dem Hochleistungssport in berufliche und private Lebenswelten übertragen. Gerade für Fachkräfte in sozialen, medizinischen oder pädagogischen Berufen ist es essenziell, sich der eigenen Emotionsdynamik bewusst zu werden – nicht nur zur eigenen Stabilität, sondern auch als Modell für andere.

Zentrale Interventionen, die auch im Alltag wirksam sind:

  • Achtsamkeitsbasierte Emotionswahrnehmung: Frühwarnsignale innerer Erregung erkennen und benennen („Ich spüre Hitze in meinem Bauch…“)
  • Kognitive Reframing-Strategien: Neue Deutungsmuster entwickeln („Was könnte der andere gerade erleben?“)
  • Atmung und Embodiment: Körperliche Selbstregulation (z. B. 4–7–8-Atmung, Haltung verändern)
  • Szenarientraining und Rollenspiele: Kritische Situationen gedanklich oder praktisch durchspielen (z. B. mit kollegialem Feedback)

Take-Home-Message

Was wie ein impulsiver Regelbruch aussieht, ist oft Ausdruck innerer Werte, sozialer Erwartungen und des Bedürfnisses nach Kontrolle. Zverevs Verhalten beim ATP-Turnier in Madrid zeigt eindrucksvoll: Selbst im Spitzensport sind Entscheidungen nicht rein rational – sie sind zutiefst menschlich. Für Trainer:innen und Athlet:innen heißt das: Wir sollten nicht erst im Ernstfall über Reaktionen nachdenken. Wer typische Auslösesituationen kennt, mentale Pläne einübt und sich selbst reflektiert, schafft die Grundlage für bewusstes, verantwortungsvolles Handeln – selbst wenn der Druck hoch ist und das Spielfeld bebt.

Reflexionsfrage

Wann hast du zuletzt aus einem Gefühl heraus gehandelt, obwohl du wusstest, dass es Regeln oder Erwartungen widerspricht? Was war dein innerer Antrieb – und wie würdest du heute damit umgehen?

Literatur

  • Ajzen, I. (1991). The theory of planned behavior. Organizational Behavior and Human Decision Processes, 50(2), 179–211.
  • Festinger, L. (1954). A theory of social comparison processes. Human Relations, 7(2), 117–140.
  • Gollwitzer, P. M. (1999). Implementation intentions: Strong effects of simple plans. American Psychologist, 54(7), 493–503.
  • Lazarus, R. S., & Folkman, S. (1984). Stress, appraisal, and coping. New York: Springer Publishing.
Prof. Dr. René Paasch

Prof. Dr. René Paasch

Professor für Sportpsychologie und Life Coaching

Ich bin verheiratet, habe 7 Kinder und lebe inzwischen in Bayern. Als Familienmensch haben Werte wie Vertrauen, Offenheit und Verantwortung einen hohen Stellenwert für mich.
In meiner Arbeit als Sportpsychologe und Life Coach vertrete ich eine ganzheitliche Sicht. Egal ob Spitzen- oder Breitensport, Beruf oder Privat – jede Situation hat bringt eigene Herausforderung mit, weshalb mich immer das Gesamtpaket interessiert und begeistert.
Weil keine Begleitung und Betreuung der vorherigen gleicht, liebe ich meine Arbeit. Ich verstehe mich dabei als Coach und Mentor und bringe mein gesamtes Wissen und mein Netzwerk in eine Zusammenarbeit mit ein.